Panama. Pankow. Werneuchen. Und ich.
29. April 2015Shooting,Portraits,Advertising,Behind the Scene
Was hat der Panamakanal mit dem Bindfadenhaus en gros Gustav Scharnau zu tun? Eigentlich nichts. Jedoch: Wasserstraße wie Unternehmen wurden 1914 eröffnet, um 100 Jahre später noch immer erfolgreich am Markt zu bestehen. Der Kanal blieb die gesamte Zeit bei seinem Kerngeschäft, so dass er heute an seine Grenzen stößt. Das Familienunternehmen aus Pankow stellte sich über die Jahrzehnte und mittlerweile vier Generationen immer wieder neu auf, so dass es heute einer der führenden Anbieter für Klebebänder und Klebelösungen aller vorstellbaren Anwendungsgebiete ist. Zog von Pankow über Mitte nach Kreuzberg und Werneuchen. Beschäftigt 80 qualifizierte Mitarbeiter, die 1539 Produkte zum Kleben und auch Schleifen individuell konfektionieren. Mutierte vom Vertrieb für Bindfäden zum verarbeitenden Partner der Automobil-, Film-, Bau-, Elektro- und Energiebranche. Bietet das Material, das der Handwerker braucht und entwickelt Maßkonfektion, die in der High Tech Industrie Probleme löst. Kam so vom Handel zum permanenten Wandel, wie er im Buche steht.
Grund genug, um zum 100jährigen auch die Außendarstellung des Hauses Scharnau zu optimieren. Die Agentur Rosendahl Berlin, die Webprogrammierer von Escape und meine Wenigkeit wurden dazu „eingeladen“. Wobei ich bereits aktiver Scharnau-Kunde war. Denn sie haben ihren City-Shop gleich dort im Elisabeth-Hof, wo oben mein Studio ist. Da hole ich meine Klebebänder, die Fotografen ja ständig brauchen. Eins davon – eine Seite festklebend, eine Seite mit Post-it-Effekt – war ein echter Problemlöser in der Planfilmkassette, um unangenehme Unschärfen bei Langzeitbelichtungen zu vermeiden: http://sucksdorff.de/knipsen-ohne-plop/
Das Scharnau-Shooting ging über viereinhalb Tage im Spätsommer. Close ups und Ladenatmo im City-Shop Berlin. Porträts der Geschäftsleitung und der Mitarbeiter im Werk Werneuchen. Dazu raumgreifende Innenansichten der Produktionshallen und optisch verlockende, teils rätselhafte Details. Die Leute sind professionell, freundlich und selbstbewusst, was der Arbeit richtig gut tat. Und das kommt auch „rüber“, wenn man sich heute durch die Porträt-Seiten im Internet klickt. Die richtige Mischung aus solide und bodenständig bis kundenorientiert und der Zukunft zugewandt. Das könnte daher kommen, dass sie nicht einfach irgendwelche Klebebänder und Klebstoffe von 3M, tesa, Permacel und anderen „nur“ verpacken und versenden. Nein, sie sind gefordert, denn Scharnau passt seine Produkte via Stanzen, Plotten, Lasern, Schneiden und Kaschieren genau an den Zweck an, für den der Kunde sie benötigt. Das heißt: Neben der Handarbeit sind hochspezielle Maschinen einzurichten, zu justieren, zu überwachen und zu warten. Bis am Ende exakt die Rolle oder Folie – gerne auch mit Bedruckung – herauskommt, die sich die Industrie an einer ganz bestimmten Stelle im Produktionsprozess wünscht.
Was meine Expertise betrifft, da war hier wieder mal der Generalist gefragt. Also erstmal der People-Spezialist: Der die genaue Position fürs Porträt bestimmt. Der aus der Maschine am Arbeitsplatz Attraktivität herauskitzelt. Der Vertrauen zu den Leuten aufbaut. Der die Scheu vor Licht und Aufbau nimmt. Der mit lockeren Worten ins Gespräch kommt und Lust aufs Bild macht. Der dem Lächeln eine Chance gibt. Und der weiß, wann es genug ist. Dann der Close up-Details-Stills-Experte: Der komplett die Ruhe weg hat. Der sich die Produkte zunächst ganz genau betrachtet. Der nachfragt, bewertet und auswählt. Der ein Gefühl dafür hat, wo die Schärfe endet und die Unschärfe ihre Reize zur Schau stellt. Der weiß, was der Hintergrund kann. Der Schritt für Schritt seine Komposition plant, ausleuchtet, hin- und herrückt. Der solange variiert, bis er die ersehnte Spannung sieht, die einiges erklärt, anderes aber offen lässt. Uns schließlich der Mann fürs Große und Ganze: Der sich mit dem Art Direktor oben auf die Arbeitsbühne stellt, um die Perspektiven in Produktion, Lager und Shop zu prüfen. Der weiß, dass Innenansichten sein müssen, auch wenn sie nicht die größte Herausforderung sind. Der gerne noch ein Extralicht aus dem Auto holt, wenn irgendeine Ecke zu verschwinden droht. Der ein Gefühl für die richtige Bildmischung aus Ordnung und Betriebsamkeit in der Halle hat.
Das war die Sache mit dem Bindenfadenhaus Gustav Scharnau en gros. Sie verkaufen heute keine Bindfäden mehr, führen sie aber aus Tradition im Namen. Sozusagen als roter Faden durch ein turbulentes Jahrhundert. Zum daran festhalten. Zum sich orientieren. Zum nach vorne schauen. Zum Beispiel nach Panama. Wo ganz sicher hin und wieder ein Schiff mit Klebebändern und Klebelösungen aus dem Hause Scharnau durch den Kanal schippert.
Ein paar Stillifes und das ein oder andere mehr für die Voila Sommer 2015
20. April 2015Shooting,Advertising,Behind the Scene